Literatur und Musik

F r é d é r i c   C h o p i n
D a s  T r a u m a   e i n e r  E n t w u r z e l u n g

“Nur dem Klavier vertraue ich meine Verzweifelung an!“

schreibt Frédéric Chopin in seinem berühmten Stuttgarter Tagebuch und hat sich doch von frühester Jugend an seinen Freunden und seiner Familie in unzähligen Briefen anvertraut. Nur ein kleiner Teil davon ist erhalten geblieben, eine Hinterlassenschaft von immerhin noch weit über 200  Manuskriptseiten, in denen die Person Chopin hinter dem Klischee vom romantisch versonnenen Melancholiker hervortritt und unverstellt zu Worte kommt, ein Mann, dem Robert Schumann attestierte, er sei „als einer der ersten auf dem Wall oben gewesen, hinter dem ein zwergiges Philistertum im Schlafe lag”. Ohne in Schwärmerei zu verfallen, prägt von Anfang an ein aufrichtiger, lebhafter, unprätentiöser Ton diese Briefe, in einer Sprache, die originell, jedoch nie sonderbar ist, und die so einfach bleibt, wie er selbst uns im Lichte seiner eigenen Mitteilungen erscheint - Briefe, in denen die Gesundheit und Vitalität des masow`schen Dorfes Ausdruck findet, wo   Chopin geboren wurde, in denen er sich klug und kenntnisreich über seine Musik äußert, die überraschen mit Witz, Mutwillen und Lust am spitzzüngigen Porträt, in denen er sich als  hellwacher Beobachter des dramatischen Geschehens seiner Zeit erweist, und die immer geprägt sind von der zunehmend verzweifelten Anteilnahme am Freiheitskampf seines Volkes, mit dem sich das gesamte freiheitlich gesinnte Europa identifizierte .

Zur Auswahl der Briefe   

In einer Zeit, die geprägt ist von großen Wanderungsbewegungen, die ihrerseits eine Unzahl schwer lösbarer ökonomischer und demografischer Probleme aufwerfen, erscheint es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, dass dem die oft genug als traumatisch erlebte Situation zugehört, den angestammten Lebensraum aufgeben müssen; eine Erschütterung, die ihrerseits zu ganz erheblichen Folgeproblemen führt. Für genau dieses dramatische Geschehen legen die Selbstäußerungen Frédéric Chopins beispielhaft Zeugnis ab, und von daher macht es Sinn, sie einem heutigen Publikum zu Gehör zu bringen. Es fällt auf diese Weise ein ganz eigenes Licht auch auf  Chopins Musik, die ihrerseits nicht zuletzt Ausdruck des Traumas einer zeitlebens unbewältigten Entwurzelung ist und das erklärtermaßen auch sein soll. Die Auswahl der Briefe, die sich bezeichnenderweise insgesamt zum überwiegenden Teil an polnische Freunde wenden, spannt den Bogen von der frühen Kindheit in Polen bis zu Chopins Tod in Paris, spart dabei aber die komplexe Beziehungsgeschichte mit George Sand bewusst aus, mithin den – falls sich das überhaupt so sagen lässt – „französischen“ Chopin, um sich ganz auf den „polnischen“ Chopin zu konzentrieren, diesen Mann, der nie aufgehört hat, sich im selbstgewählten Exil in Frankreich als Fremder zu fühlen und bis zu seinem Tod immer wieder den verzweifelt entbehrten Bezug zu seinem Land, zu seiner Sprache und zu seiner Familie beschworen hat .

Dieser, zumal für den nicht-polnischen Hörer, unvermuteten Dimension in der Musik Chopins den Zugang zu öffnen, zugunsten nicht zuletzt auch eines tieferen Verständnisses der polnischen Geschichte, darum geht es uns. Im intimen Dialog von Musik und Wort, vom Klang des Klaviers - dem Instrument Chopins - und der Stimme des Vortragenden soll ereignishaft erfahrbar werden, wovon hier gesprochen ist .

Programmfolge

Sprecher und Textauswahl: Bernt Hahn
Klavier: Sheila Arnold

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