Von Eskimos und Mangos

Piano News Ausgabe 6/2003
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„Thème varié“? - ein Wortspiel! Das Thema der CD ist die „Variation“ im mehrfachen Sinn, da drei verschiedene „Themen“ variiert werden: zunächst das musikalische Thema der jeweils gespielten Werke, zum anderen das Thema „Tasteninstrument“, das Thema „Spieltechnik“ und darüber hinaus das Thema der sogenannten „Frauenmusik“. Schade nur, daß das heutzutage überhaupt noch ein Thema ist. Denn das Thema „Männermusik“ gibt es nicht, glaube ich.

Naja, das soll aber nicht Gegenstand der folgenden Gedanken sein...
Viel interessanter wäre es für Sie wahrscheinlich, ein wenig über den etwas ungewöhnlichen Inhalt der CD zu erfahren. Insbesondere über die Wahl der verschiedenen Tasteninstrumente.
Spannend war es schon, die vielen teils unbekannten Werke zu entdecken, die hier z. T. erstmals auf CD erscheinen. Abgesehen von der Suite von Elisabeth Jacquet de La Guerre und den Trois Morceaux von Lili Boulanger lag zum Zeitpunkt der Aufnahme kein gedrucktes Notenmaterial vor. Bei der Auswahl der Werke leitete mich wie immer die Frage: Ist das Stück so spannend, daß ich auf Dauer gerne daran arbeiten würde? Tatjana Komarova (*1968) brauche ich nicht eigens vorzustellen, ihre Auftragskompositionen werden weltweit bei den großen Festivals aufgeführt. Auch ihre Klaviermusik sprach mich spontan an. Bernfried Pröve von Master Arts Records hat mich auf die Musik Lili Boulangers (1893-1918) hingewiesen, der jüngeren Schwester von Nadia Boulanger. Trotz ihres frühen Todes hinterließ Lili eine große Anzahl von zauberhaften, ergreifenden Werken, besonders Vokalwerken. Zwei phantastische Sinfonien von Louise Farrenc (1804-1875) hatten mich hellhörig gemacht. Die größte stilistische Herausforderung für mich war aber die „Suite in d“ von Elisabeth Jacquet de La Guerre (1665-1729) aus dem Jahre 1707. Ihre Musik, wie überhaupt die des französischen Barock, Rameau, Couperin, Froberger und wie sie alle heißen, besitzt einen hinreißenden Charme. Ihr gehört schon lange meine geheime Vorliebe und so hatte ich viel gelesen und gehört. Besonders wertvoll aber war für mich der Unterricht bei Prof. Gerald Hambitzer, wo ich viel über die spezielle Anschlagsweise auf dem Cembalo und die Eigenarten französischer Barockmusik lernte, wie z. B. die Ausführung der Ornamente, das typische „inegale Spiel“ oder den Stil der eigenen spontanen Verzierungen bei Wiederholungen.

Übrigens ist mir der englische Begriff: „HIP“ – Historically Informed Playing- sehr sympathisch. Historisch informiert zu sein heißt für mich, um die stilistischen Details zu wissen, aber unkompliziert und spontan genug zu bleiben, die Musik dieser Zeit lebendig zu vermitteln. Hat Musik nicht in erster Linie mit der Idee der Kommunikation zu tun? Alles andere: das Instrument, das Wissen um Stil und Technik im weitesten Sinne, sollten vorhanden sein, aber doch nur als untergeordnetes Fundament, nicht wahr?
So ganz ohne Weiteres wagt man allerdings heutzutage solch ein Unternehmen auch nicht - als „moderne“ Pianistin auf einem Cembalo oder Hammerflügel eine CD-Einspielung zu veröffentlichen! Bernhard Wallerius vom WDR Köln wußte, daß ich mich schon seit langem mit historischen Instrumenten beschäftigt hatte. Durch meinen Mann und Duo-Partner, den klassischen Gitarristen Alexander-Sergei Ramirez, war der Schritt zum Hammerklavier eigentlich fast schon vorprogrammiert. Nur in dieser Konstellation konnten wir den selten zu hörenden, herrlichen Originalwerken für Gitarre und Hammerklavier (manchmal auch Cembalo) gerecht werden. Zugegeben: erst allmählich begannen diese alten Instrumente ihre unglaubliche Faszination auf mich auszuüben.

Jedenfalls, als Bernhard Wallerius meinen Programmvorschlag sah, hatte er sofort die Idee, die Werke auf unterschiedlichen Instrumenten aufzunehmen. Und vor der großen Instrumentensammlung des WDR konnte ich schlecht widerstehen! So wagten wir das Abenteuer. Wir entschieden uns für das zweimanualige Dowd-Cembalo von 1974 (Nachbau eines F&N Blanchet von 1730), den historischen Erard-Flügel von 1839 und einen der Steinway-D-Konzertflügel. Die beiden hervorragenden Klaviertechniker Hans Giese und Paul Müller haben die Aufnahmesitzungen mit großem Engagement und Begeisterung betreut.
Die Instrumente haben in ihrer Zartheit, Zerbrechlichkeit des Klangs und ihrer enormen Palette von Klangfarben einen Charme, dem man sich kaum entziehen kann. Man muß nur offen und mutig genug sein, bisherige Hörgewohnheiten zurückzustellen.
Aus den Erfahrungen mit ihnen kann der Interpret aber nicht nur bezüglich des Umgangs mit barocken bis romantischen Klavierwerken profitieren, weil sowohl die Anschlagskultur als auch das Verständnis für Artikulation, Phrasierung und Pedalgebrauch geschult werden. Die ausgeprägt vielfältigen Klangregister in den unterschiedlichen Lagen beflügeln zudem die Inspiration! So nimmt auf dem Hammerklavier z. B. ein Motiv bei Schubert, das jeweils in Diskant-, Mittellage und Baß erklingt, drei völlig verschiedene Farben an, ohne daß man am Anschlag irgend etwas verändert. Beethoven und Haydn hatten mit bestimmten, großzügigen Pedalbezeichnungen klangliche Wirkungen im Sinn, die man nicht einmal erahnen kann, wenn man sie nicht selbst am Hammerklavier erlebt und erfühlt hat. Man weiß das alles – aus Büchern, Gesprächen, Beschreibungen. Aber ich glaube, für jeden Pianisten, der neugierig genug ist, sich um Stiltreue Gedanken zu machen, ist es notwendig, sich eine Zeit lang mit alten Tasteninstrumenten aktiv zu beschäftigen. (Also nur zu, wenn an der einen oder anderen Musikhochschule das Wahlpflichtfach „Historische Tasteninstrumente“ angeboten wird) Ein Eskimo weiß ja auch nicht, wie eine Mango schmeckt, nur weil man versucht, ihm den Geschmack zu erklären!

Daher versuche ich, die Neugier meiner Studenten anzuregen. – Was natürlich sehr gemischte Reaktionen auslöste! Beim letzten Klavierkurs stand mir neben einem modernen Konzertflügel auch ein Hammerflügel zur Verfügung. Manche waren begeistert, andere am Rande der Verzweiflung. Der Hammerflügel erfordert eine grundlegende Umstellung der Spielweise. Denn das einzig Identische ist, daß man jeweils Tasten nach unten bewegt. Doch WIE...? Reine Feinmotorik - besonders beim Cembalo. Hier erlebt man übrigens etwas Einzigartiges, was uns Pianisten sonst nie vergönnt ist: Der scheinbar „direkte“ Kontakt zu den Saiten. Bei einer bewußten und entspannten Ausführung mit gutem Tastenkontakt spürt der Spieler, wie der Kiel die Saite bis kurz vor dem Auslösen spannt, erst ganz zum Schluß die Saite in Schwingungen versetzt und den Ton freigibt. Die verschiedenen Register und deren Kopplungen ermöglichen ein Feuerwerk an Farben. Was man beim Cembalospiel am meisten lernt, ist der Umgang mit der Agogik, genaue Artikulation und bewußte Differenzierung von non legato über legato bis legatissimo – Gestaltungsmittel, die dem Werk Flexibilität und „Dynamik“ geben, da objektive Dynamik nur äußerst begrenzt möglich ist und es bei den meisten Cembali auch noch kein Pedal gab.

Auch bei den frühen Hammerflügeln ist die reine Fingertechnik, sind die differenzierten Anschlagsnuancen allein durch die Finger unabdinglich. Erst bei Beethoven kommt die Gewichtstechnik ins Spiel. Statt der Register gibt es hier eine Auswahl an Pedalen. Die gängigsten sind das Una Corda (links), der Moderator (Mitte), die Dämpfungsaufhebung (rechts). Dabei ist es hochinteressant, zu entdecken, daß das Una Corda vieler Hammerflügel bis ca. 1825 eine völlig andere Wirkung auf den Klang ausübt als das des modernen Flügels! Der Ton wird dünner, silbriger, wirkt manchmal fast cembaloartig, und das rechte Pedal ist in seiner Wirkung längst nicht so „hallig“ wie das heutige, da der Ton an sich schlanker, klarer und transparenter ist. Das Moderator-Pedal funktioniert im Prinzip genauso wie jenes, das heute manchmal bei Klavieren zur Schonung der Nachbarn eingebaut wird. Hier legt sich ein Filzsegel zwischen Saiten und Hammerkopf, das macht den Ton sehr leise und samtig.

Beim Hammerflügel sind es manchmal einzelne Filzstreifen pro Hammerkopf.
Die Wirkung ist zauberhaft und führt bei entsprechendem Anschlag zu fast glockenähnlichen Klängen. Diese Pedale erweitern den Farbenreichtum des Hammerflügels um ein Vielfaches gegenüber den Möglichkeiten des modernen Flügels. Um den Anfang des 19. Jahrhunderts herum kamen auch „Effektpedale“ in Mode wie z. B. der Janitscharenzug oder der Fagottzug - Kuriositäten, die bei sparsamem Gebrauch ihre Wirkung im Konzert nicht verfehlen!

Nicht, daß Sie denken, ich würde mich so allmählich vom modernen Konzertflügel verabschieden! Ganz und gar nicht. Sicher werde ich stets zweigleisig fahren, veranlaßt allein schon durch die Duo-Partnerschaft mit meinem Mann (sonst würden wir uns ja gar nicht mehr sehen...!). Es gibt für mich aber nicht das ultimative Entweder-Oder. Dafür liebe ich den Steinway-Flügel zu sehr. Natürlich werde ich stets die Werke von Scarlatti oder Bach bis Komarova auf diesem Instrument genießen. Aber die Beschäftigung mit verschiedenen Instrumentenarten ist einfach anregend und horizonterweiternd. Hat man erst einmal erlebt, welche Instrumente den Komponisten zur Verfügung standen, bekommt man eine Ahnung, was die Klangvorstellungen waren, die sie zu ihren Werken inspiriert haben. Solche Erkenntnisse könnte man dann auch auf die Dimensionen des modernen Konzertflügels übertragen.

Allerdings würde ich mich freuen, wenn der Hammerflügel seine Identität noch mehr auch als „neuartiges“ modernes Instrument festigen würde und Komponisten unserer Zeit seine vielfältigen klanglichen Möglichkeiten nutzen und für ihn schreiben würden! Das Cembalo hat diese „Renaissance“ ja längst erlebt, denn es existiert nicht nur in historischer, sondern auch in moderner Bauweise und es gibt bereits zahlreiche Werke des 20. Jahrhunderts von so bedeutenden Komponisten wie Stravinsky, de Falla, Martin, Poulenc, Ponce oder Ligeti.

  Sheila Arnold